Vielleicht erinnert sich der eine oder andere noch: Als uns die Corona-Krise mit dem ersten Lockdown im März so richtig nahekam, hatten viele ja die Hoffnung, dass wir Ostern wieder fröhlich feiern könnten. Sogar ein neues Lied hatten wir schon online gelernt, das wir im ersten gemeinsamen Gottesdienst singen wollten. Schon zu Ostern kam es anders. Die Kirchen blieben geschlossen. Einschränkungen begleiten uns seitdem dauerhaft.
Nun kommen die Advents- und Weihnachtszeit und der Alltag steht immer noch unter dem Vorzeichen der Pandemie. Vermutlich wird das auch noch lange so bleiben.
Wenn ich über die zurückliegenden Monate nachdenke, dann bin ich dankbar, was durch den Einsatz einiger Mitarbeiter alles möglich geworden ist. Da wurden technische Möglichkeiten geschaffen und genutzt, an die wir vor einem Jahr kaum gedacht hätten. Ich bin dankbar dafür, dass einige mit vorsichtigem Mut wieder kleine Veranstaltungen und Treffen durchgeführt haben. Darin wurde und wird die Lebendigkeit von Gemeinde deutlich. Auch wenn manches im Moment einen Dämpfer bekommen hat, sollten wir uns nicht entmutigen lassen. Wir möchten als Gemeindeleitung sehr anregen, dass Begegnung und Gemeinschaft im gesetzlichen und verantwortbaren Rahmen, d.h. mit Hygienemaßnahmen und in kleinen Gruppen auch im neuen Jahr stattfinden und/ oder ins Leben gerufen werden. Ob das eine Verabredung zu einem gemeinsamen Spaziergang, zu einer Art „Stammtisch“ im Gemeindehaus, einer Bibellesegruppe, einem Lesekreis o.ä. ist. Das wird davon abhängen, wer sich wofür begeistern kann. Digitale Möglichkeiten haben ihren Sinn und sind momentan äußerst hilfreich. Aber reale Begegnung von Mensch zu Mensch können sie nicht ersetzen.

Was mich ebenfalls dankbar macht, ist folgende Erfahrung: Da kommen zu uns bisher unbekannte Menschen und suchen eine Gemeinde. Da melden sich Menschen zur Taufe. Da möchten Menschen mit ersten, zaghaften Glaubenserfahrungen im Glauben wachsen. In keiner Zeit meines bisherigen Pastorendienstes habe ich in so kurzer Zeit so viele Gespräche mit solchen Menschen geführt. Auch das zeigt mir, dass Gemeinde Jesu lebt. Und selbst in unseren noch nicht wöchentlich stattfindenden Präsenzgottesdiensten konnten wir immer wieder Menschen begrüßen, die bisher noch nicht bei uns waren.

Die Corona-Krise hat also auch positive Seiten. Sie bringt manches ans Licht, was unterschwellig schon lange da war. Das mag manchmal erschreckend sein, ist letztlich aber hilfreich und klärend.

Gute Beziehungsnetzwerke wurden gestärkt und intensiviert. Aber wer schon vor Corona keine wirklichen Beziehungen hatte, der wird das in dieser Krise schmerzhaft gemerkt haben.

Wer innerlich zur Gemeinde schon auf Abstand gegangen war, der wird sich jetzt eher noch weiter entfernt haben. Andere erleben dagegen eine größere Nähe und Intensität, auch wenn persönliche Begegnungen zurzeit schwierig sind.

Die Krise bringt auch in unserer Gesellschaft Dinge ans Tageslicht. Manche Radikalisierung ist ja nicht neu. Sie wird jetzt nur verstärkt.
Es zeigt sich das, was Tobias Künkler das Vergemeinschaftungsparadox nennt.

Im Lauf der letzten Jahrhunderte ist der Mensch immer mehr zum Individuum geworden. Definierte sich der Mensch früher über die Familie, die Sippe, den Stamm, das Volk oder sonst eine Gruppe, so definiert er sich heute aus seinen eigenen Fähigkeiten, seiner Persönlichkeit und seinem persönlichen Erfolg. Diese Individualisierung gibt dem einzelnen Menschen einen großen Wert. Jeder einzelne ist ein Geschöpf Gottes.
Der Mensch ist aber immer auch ein Gemeinschaftswesen. Er sucht Kontakt zu anderen und braucht sie. Denn kein Mensch kann ganz allein leben. Auch die Wertschätzung, die sich jeder wünscht, kann er ja nur dann erhalten, wenn er mit anderen Menschen in Kontakt ist.
Daraus ergibt sich eine paradoxe Spannung. Menschen brauchen einander. Aber der andere ist zugleich immer auch eine Art Bedrohung, denn er schränkt die eigene Freiheit ein, hinterfragt oder untergräbt gar meinen Wert als Individuum.
So brauchen und suchen die Menschen Kontakt und Nähe – aber bloß nicht zu nah! Dieses Paradox dürfte auch mit hinter dem Erfolg der sozialen Medien stecken, denn sie geben die Möglichkeit zur Gemeinschaft, sich selbst zu präsentieren und garantieren aber auch einen gewissen Abstand.
Was diese Entwicklungen für Gemeinschaft, wie wir sie bisher in Freikirchen und auch bei uns gelebt haben, bedeutet, kann noch niemand wirklich sagen. Offensichtlich scheint nur: Die Formen für Gemeinschaft werden sich verändern. Und Corona beschleunigt diese Veränderungsprozesse.

Ich bin überzeugt: Gemeinde Jesu wird bleiben. Denn „die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen“ (Mt16, 18). Aber sie wird nicht so bleiben, wie sie momentan ist. So lasst uns neue Wege gehen und neue Formen für Gemeinschaft finden in der Gewissheit: Jesus Christus bleibt in unserer Mitte.

Harald Kufner

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